Polioviren sind hochinfektiöse, umweltresistente Enteroviren. Die Übertragung erfolgt überwiegend fäkal-oral. Ursprünglich gab es 3 Typen von zirkulierenden Wildpolioviren: WPV1–3. Heute existiert nur noch WPV1. Die beiden anderen Typen von WPV wurden ausgerottet. Als WPV-endemische Länder gelten nur noch Pakistan und Afghanistan. 2022 wurden zudem WPV-Fälle in Malawi und Mosambik nachgewiesen, die gemäß genetischer Analysen ihren Ursprung in Pakistan hatten.
Neben den Wildpolioviren zirkulieren in vielen Ländern mutierte Impfviren. Man bezeichnet sie als „circulating vaccine derived poliomyelitis virus“ (cVDPV). Sie stammen vom oralen Poliolebendimpfstoff (OPV) ab und entstehen, wenn in einer Bevölkerung mit unzureichender Durchimpfungsrate über einen längeren Zeitraum (oft 12–18 Monate) ausgeschiedene Impfviren zirkulieren und dabei mutieren. Hygienemängel können eine Zirkulation begünstigen.
cVDPV wurde in den letzten Jahren in zahlreichen Ländern nachgewiesen, die Verbreitung beschränkt sich nicht mehr auf die Tropen und Subtropen bzw. auf Länder, in denen mit OPV geimpft wird (▶Tab. 4). cVDPV-Infektionen verursachen die gleichen Symptome wie eine Wildtyp-Poliovirus-Infektion.
▶Tab. 4 Länder mit Polioimpfindikation nach WHO Polio IHR Emergency Committee [40], (Stand 02/2023). |
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Indikation |
Länder |
Farbe |
Impfhinweise |
WPV1-Zirkulation |
Afghanistan, Malawi, Mosambik, Pakistan |
Rot |
Aufenthalt ≤4 Wochen: Aufenthalt >4 Wochen: Laut WHO-Vorgaben besteht eine Impfnachweispflicht für WPV1- sowie cVDPV1- und cVDPV3-endemische Länder. Die Nachweispflicht wird jedoch überwiegend nicht umgesetzt. |
cVDPV1–3-Zirkulation |
cVDPV1: D.R. Kongo, Madagaskar |
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cVDPV2: Algerien, Ägypten, Äthiopien, Benin, Botsuana, Burkina Faso, Côte d’Ivoire, Dschibuti, Eritrea, Ghana, Großbritannien, Indonesien, Jemen, Kamerun, Niger, Nigeria, Sambia, Senegal, Somalia, Sudan, Togo, Tschad, USA, Zentralafrikanische Republik |
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cVDPV3-Zirkulation: Israel |
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Vulnerabel für Ausbruch |
Gambia, Guinea, Guinea-Bissau, Iran, Liberia, Mauretanien, Republik Kongo, Sierra Leone, Südsudan, Tadschikistan, Uganda, Ukraine |
Gelb |
Auffrischimpfung, wenn letzte Impfung vor mehr als 10 Jahren verabreicht wurde (unabhängig von der Reisedauer). |
cVDPV2-Nachweis im Abwasser ohne lokale Transmission |
Kanada |
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Surveillance ungesichert (StAR-Expertenmeinung) |
Haiti, Syrien |
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Andere |
Ägypten, Bangladesch, Brunei Darussalam, Georgien, Indien, Iran, Katar, Malediven, Marokko, Nepal, Philippinen, Saudi-Arabien, St. Kitts und Nevis |
Schraffiert |
Impfpflicht bei Einreise aus Risikoregionen [5]. |
In Deutschland wird seit 1998 nicht mehr mit OPV geimpft, sondern mit dem inaktivierten trivalenten Totimpfstoff (IPV). Ausschließlich IPV-Geimpfte sind zwar vor Erkrankung geschützt, können aber ab ca. einem Jahr nach der jeweils letzten Impfung Polioviren enteral vermehren und somit auch im internationalen Reiseverkehr weitertragen. Der orale Lebendimpfstoff, der diese Gefährdung ausschließt, ist aktuell nur noch bivalent (bOPV) und enthält OPV1 und OPV3. Um die weitere Verbreitung von cVDPV2 zu verhindern, wurde OPV2 aus dem Impfstoff entfernt, nachdem das analoge Wildtypvirus WPV2 eliminiert worden war.
Für die Eingrenzung von cVDPV2-Ausbrüchen wurden 2020 2 neue OPV2-Impfstoffe entwickelt (nOPV2), die genetisch stabiler sind und dadurch das Mutationsrisiko reduzieren sollen [39].
Für Deutschland empfiehlt die STIKO eine Grundimmunisierung sowie eine einmalige Auffrischimpfung mit IPV. Eine Auffrischung alle 10 Jahre wird nur noch für beruflich Exponierte empfohlen.
Bei Reisen in Länder, in denen WPV oder cVDPV zirkulieren, kann eine Auffrischimpfung nötig werden. Neben bekanntermaßen WPV- oder cVDPV-endemischen Ländern existieren Länder, die kürzlich Polioausbrüche hatten oder für Polioausbrüche vulnerabel sind, diese aber möglicherweise aufgrund eingeschränkter Surveillancekapazität nicht detektieren und zeitgerecht melden können. Auch für Reisen in diese vulnerablen Länder kann eine Polioauffrischimpfung sinnvoll sein (▶Abb. 6) (▶Tab. 4) [40].
Eine Polioimpfung im reisemedizinischen Kontext dient einerseits dem Individualschutz des Reisenden und verhindert andererseits den Export von WPV und cVDPV.
Für Langzeitaufenthalte (> 4 Wochen) in Ländern mit WPV sowie cVDPV1 oder 3 besteht laut WHO bei Ausreise eine Nachweispflicht für eine Polioimpfung. Diese soll die Verschleppung von Polioviren verhindern. Die Impfung muss bei Ausreise 4 Wochen bis 12 Monate zurückliegen. Dies soll eine gute mukosale Immunität gewährleisten.
Für eine Ausreise aus cVDPV2-endemischen Ländern sieht die WHO keine Nachweispflicht vor, sondern spricht lediglich die Empfehlung aus, eine aktuelle Impfung nachweisen zu lassen. Dies liegt daran, dass weltweit aktuell praktisch nur noch der bivalente Impfstoff (bOPV) erhältlich ist, der kein OPV2 mehr enthält. Eine Impfpflicht bei Ausreise wäre daher nicht umzusetzen. Es ist aber selbstverständlich wünschenswert, auch den Export von cVDPV2 zu verhindern. Die hierzulande verfügbare trivalente Totvakzine enthält Impfviren aller 3 Poliostämme und kann somit vor dem Export aller 3 Virussubtypen schützen.
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Impfempfehlungen und nationale Einreisevorschriften für Poliomyelitis.
Für alle farblich markierten Länder ist eine Auffrischimpfung empfohlen (Details s. ▶Tab. 4). Alle schraffierten Länder haben laut WHO Einreisevorschriften bzgl. Poliomyelits.
Aktuelles Update im Internet: https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/reise-gesundheit/-/2517492
Quelle: Auswärtiges Amt
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Indikationen
Eine Übersicht über Länder, für die eine Polioimpfung reisemedizinisch empfohlen bzw. erforderlich ist, geben ▶Tabelle 4 und die epidemiologische Weltkarte in https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/reise-gesundheit/-/2517492.
Seitens der Länder mit Nachweispflicht gilt: Es wird der Nachweis einer Polioimpfung gefordert, die maximal 12 Monate, aber mindestens 4 Wochen zurückliegt. Die Gültigkeit der Impfbescheinigung beträgt nur ein Jahr. Eintrag als internationales Zertifikat im Impfpass (▶Abb. 1).
Der StAR und der Gesundheitsdienst des Auswärtigen Amts empfehlen nicht nur für alle Länder, in denen WPV oder cVDPV1–3 zirkulieren, sondern auch bei Reisen in vulnerable Länder eine Polioauffrischimpfung. In letzterem Punkt weicht der StAR von den Empfehlungen der STIKO ab, die für vulnerable Länder keine Auffrischimpfung vorsieht. Die STIKO empfiehlt zudem für Länder mit cVDPV2-Nachweis keine Impfung bei Reisen unter 4 Wochen und listet die Länder, in denen VDPV2-Nachweis lediglich im Abwasser erfolgte (ohne lokale Transmission, aktuell: Kanada), nicht separat.
Zusätzliche Hinweise und Empfehlungen
- Länder, für die besondere Vorschriften zum Schutz vor internationaler Polioausbreitung gelten, werden etwa vierteljährlich durch die WHO publiziert und u. a. in die Empfehlungen der DTG-STIKO-AG und die Reise- und Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amts aufgenommen, die jeweils ca. 4-mal jährlich aktualisiert werden (siehe QR-Code und diplo.de/2517492).
- Polioauffrischimpfungen im reisemedizinischen Kontext gelten als Indikationsimpfung und können daher zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung durchgeführt werden.